110 Jahre Schienenfahrzeuge aus Hennigsdorf

Im Herbst 1913 begann die AEG in Hennigsdorf mit der Errichtung der Fabrikhalle für eine neue Lokfabrik. Anlaß war die Ausweitung der Fertigung elektrischer Lokomotiven, speziell für Wechselstrom 15 kV 16 2/3 Hz, die in der bisherigen Lokfabrik in der Brunnenstraße in Berlin-Gesundbrunnen nicht mehr zu leisten war.

Die AEG hatte 1910 auf den Fluren der gemeinden Hennigsdorf und Nieder-Neuendorf ein Gelände von 330 Morgen (ca. 5,6 km²) erworben, um hier neue Fabriken anzusiedeln. Ab 1910 entstanden zunächst eine Prozellanfabrik (heute Gebäude 71), in der Isolatoren, Isoliermaterial, Öltuche und Heizapparate gefertigt wurden.

Gegen Ende 1913 wurde der Grundstein für die Hallen der Lokfabrik (am Standort des heutigen Gebäudes 74) gelegt, im Frühjahr 1914 wurden hier die ersten normalspurigen Elektro-Lokomotiven endmontiert. Die Bahnmotorenfertigung verblieb zunächst noch in Berlin.

Abbildung 1 Blick in die Lokmontage im Frühjahr 1914, auf der Schiebebühne steht eine Lokomotive für den Postbahnhof am Berliner Ostbahnhof, auf der linken Seite sind die EG512 und 513 zu sehen, die ersten in Hennigsdorf montierten Wechselspannungslokomotiven

In ähnlicher Bauweise entstand südlich vom heutigen Gebäude 68 im Jahre 1914 eine Flugzeugfabrik für die Fertigung von Militärflugzeugen. Ergänzt wurden die verschiedenen Fabriken durch zentrale mechanische Werkstätten.

Da aufgrund des Ersten Weltkrieges das Elektrifizierungsprogramm der Königlich Preußischen Eisenbahn-Verwaltung zunächst eingestellt wurde, verlagerte die AEG die Fertigung von Industrie-Elektrolokomotiven ebenfalls nach Hennigsdorf.

1917 wurde das Werk im Werk eine Kesselschmiede gebaut (am heutigen Standort des Gebäudes 3).

Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges wurde Deutschland durch den Versailler Vertrag die Produktion von Rüstungsgütern untersagt. Die Hallen der Flugzeugfabrik wurden fortan für den Neubau von Dampf- und Elektrolokomotiven genutzt, in der ursprünglichen Lokfabrik wurden zunächst Dampflokomotiven der 1920 geschaffenen Deutschen Reichseisenbahnen instandgesetzt.

Bis Mitte der 1920er Jahre wuchs die Fertigung von Dampf- und Elektrolokomotiven ständig an, die Fertigung von elektrischen Industrielokomotiven wurde in das Gebäude des ehemaligen Scheinwerferbaues (Gebäude 1, abgerissen) verlagert.

Abbildung 2

Blick auf das Hennigsdorfer Werkgelände Mitte der 1920er Jahre

Einen deutlichen Einbruch gab es mit der Gründung der DeutschenReichsbahn-Gesellschaft ab 1925, da die inländischen Lokbestellungen deutlich zurückgingen.

Am 30. Dezember 1930 fusionierten die AEG und die Borsig GmbH ihre Dampflokaktivitäten zur Borsig-Lokomotiv-Werke GmbH. Die Fertigung der Kessel erfolgte in Hennigsdorf, die Endmontage zunächst in Berlin-Tegel. 1932 übernahm der AEG den noch verbliebenen Anteil von Borsig.

Nachdem die Borsig Lokomotiv-Werke 1935 das Gelände in Tegel an die Fa. Rheinmetall abgeben mußten, kehrte die Fertigung 1935 nach Hennigsdorf zurück.

Zu den großartigen Lokomotiven jener Zeit gehören die Stromlinien-Dampflokomotiven der Baureihe 05, von denen die 05 002 1936 eine Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h erreichte. Auch leistungsstarke Elektrolokomotiven der Baureihen E18 (Höchstgeschwindigkeit 140 km/h) und E19 (Höchstgeschwindigkeit 180 km/h) verließen das Werk.

Abbildung 3

Gruppenbild der Belegschaft der Borsig Lokomotiv-Werke mit der Weltrekordlok 05 002

Ab 1940 wurde das Werk auf Kriegswirtschaft umgestellt, Lokomotiven mußten vereinfacht werden, um Material und Fertigungsstunden einzusparen. Dies mündete in der Vorstellung der ersten stark vereinfachten Kriegslokomotive der Baureihe 52 am 17. September 1942 durch die Borsig Lokomotiv-Werke in Hennigsdorf. Die Serienfertigung dieser Lokomotiven startete in Hennigsdorf im Frühjahr 1943, im August wurden 40 Lokomotiven ausgeliefert – pro Monat! Für den Rahmenbau wurde das spätere Gebäude 35 in südlichen Werkteil neu errichtet.

Am 7. September 1943 mußte die Fertigung dieser Dampflokomotiven auf Befehl des Reichsministers für Rüstung und Produktion eingestellt werden, der Bau von Elektrolokomotiven durch die AEG lief jedoch weiter.

Am 18. März 1945 wurden Teile des Werkes durch einen Bombenangriff zerstört, die ehemalige Flugzeughalle (südlich vom Gebäude 68) erhielt mehrere Volltreffer. Nach der Besetzung des Werkes durch die Rote Armee wurden im Sommer 1945 die Hallen der Kesselschmiede und der Lokfabrik als Reparationsleistung demontiert.

Im Oktober 1945 beschlagnahmte die sowjetische Besatzungsmacht das Werk und überführte es im Juli 1946 in eine Sowjetische Aktiengesellschaft. Im Juli 1947 wurde das Werk an die brandenburgische Provinzialverwaltung zurückgegeben. Ab 1. Juli 1948 firmierte das Werk als VEB Lokomotivbau-Elektrotechnische Werke Hennigsdorf.

Da 1946 durch die Demontage der fahrleitungsanlagen in der sowjetischen Besatzungszone zunächst kein Bedarf an Elektrolokomotiven mehr bestand, wandte sich das Werk zunächst der Instandsetzung von Dampflokomotiven und dem Fertigbau von vorhandenen Dampflok-Bausätzen zu.

Die Fertigung von Elektrolokomotiven wurde 1949 mit der Lieferung von 80-Tonnen-Industrielokomotiven im Rahmen von Reparationsleistungen an die Sowjetunion wieder aufgenommen. Für den Lokomotivneubau mußte zunächst das Gebäude des Rahmenbaues genutzt werden, da die Lokmontage demontiert worden war.

Abbildung 4

Erste Nachkriegsfertigung an Elektrolokomotiven war die sogenannte 80 Tonnen-Lok, die als Reparationsleistung in die Sowjetunion geliefert wurde.

Erst 1954 entstand an der Stelle der demontierten Halle eine neue Lokmontage.

Hier konnten auch die ersten Nachkriegs-Vollbahn-Elektrolokomotiven EU04 und EU05 für die polnische Staatsbahn PKP endmontiert werden, die ab 1954 zur Auslieferung kamen. (Ausgeführt waren sie für 3 kV Gleichspannung). Parallel fertigte das Werk in großer Zahl verschiedene Typen von Industrie-Elektrolokomotiven für den Bedarf der DDR, aber auch für den Export in die Sowjetunion und nach China.

1955 wurde der Bau von Dampflokomotiven zugunsten einer Ausweitung des Baues von Elektrolokomotiven eingestellt.

Mit der Wiedererrichtung des elektrifizierten mitteldeutschen Netzes ab 1955 im Raum Halle / Leipzig / Bitterfeld ab 1955 und daran anschließenden Strecken bestand in der DDR ein neuer Bedarf für elektrische Lokomotiven. LEW Hennigsdorf entwickelte hierfür die Baureihen E11 und E42, die sich anfangs nur durch die Getriebeübersetzung und unterschiedlichen Höchstgeschwindigkeiten unterschieden.

Am Standort der Kesselschmiede wurde 1964 eine neue Montagehalle zur Rohbaufertigung in Betrieb genommen, die für eine Ausweitung der Produktion dringend gebraucht wurde.

Ein Jahr später konnte LEW Hennigsdorf die ersten Zweikraft-Elektrolokomotiven der Baureihe EL10 an die Sowjetunion ausliefern. Neben einem elektrischen Antrieb vom 25 kV, 50 Hertz-Netz besaßen die Lokomotiven einen Dieselmotor, um an den Verladestellen in den Tagebauen den Zug autark bewegen zu können.

Für den Betrieb der Deutschen Reichsbahn war das Hennigsdorfer Werk auf die Fertigung von Lokomotiven für 15 kV, 16 2/3 Hz spezialisiert. Mehrfach versuchte das Werk Lokomotiven für 25 kV, 50 Hz zu entwickeln und im Weltmarkt zu platzieren. Die Bemühungen blieben leider ohne Erfolg, lediglich für den Inselbetrieb auf der Rübelandbahn bei Blankenburg im Harz wurden 15 Lokomotiven für 50 Hz-Betrieb verkauft.

1965 wurde auch die Fertigung von Diesellokomotiven der Baureihe V60 vom VEB Lokomotivbau Babelsberg übernommen. Im März 1966 konnte die erste Lokomotive ausgeliefert werden. Mehr als 2000 Lokomotiven dieses Typs sollten folgen für den Dienst bei der Deutschen Reichsbahn, auf Industriebahnen, in Bulgarien, Ägypten und Algerien.

Abbildung 5

Blick in die Hennigsdorfer Endmontage im Frühjahr 1974 mit Diesellokomotiven der Baureihe 110 (ehemals V100)

1965 wurde ebenfalls der Hennigsdorfer-Prototyp der Laubaureihe V100 fertiggestellt, nachdem LKM Babelsberg zuvor zwei Prototypen gebaut hatten. Über 800 Lokomotiven der Baureihe folgten.

Nachdem ein erster Prototyp eines Triebzuges für die Berliner S-Bahn nicht zum Erfolg führte, konnte das Hennigsdorfer Werk Anfang der 1970er Jahre die ersten Triebzüge in Serie herstellen. Für die Budapester Vorortbahn entstanden ab 1970 91 Züge der Typen MX und MXA, hinzu kamen 25 Triebzüge für den Vorortverkehr zwischen Kairo und Heluan in Ägypten.

Ab Ende der 1970er Jahre fertigte das Werk leistungsstarke, sechsachsige Elektrolokomotiven der Baureihe 250 für die Deutsche Reichsbahn.

Ab Mitte der 1980er Jahre durfte das Werk auch mit Unternehmen aus dem nichtsozialistischen Ausland kooperieren. Gemeinsam mit AEG und MAN lieferte LEW Hennigsdorf Triebzüge für die Athener Vorortbahn ISAP sowie mit AEG und dem VEB Waggonbau Bautzen Triebzüge für 160 km/h

Höchstgeschwindigkeit an die griechische Staatsbahn OSE.

In den 80er Jahren entstand auch die sogenannte „Triebwagenhalle“ (Geb. 221) im südlichen Gelände, da LEW mit größeren Aufträgen im Triebwagenbereich rechnete, die parallel zur Lokproduktion zu fertigen wären.

Für die Deutsche Reichsbahn entwickelte LEW Anfang der 1980er Jahre den den Prototyp der Baureihe 212, der mit geänderter Getriebeübersetzung als Güterzug-Baureihe 243 mit 120 km/h Höchstgeschwindigkeit beschafft wurde. Die noch in konventioneller Antriebstechnik ausgeführten Lokomotiven sollten in der Schnellzugvariante als Baureihe 112 der Deutschen Bundesbahn und Deutschen Reichsbahn dem Werk das Überleben in der turbulenten Wende- und Nachwendezeit sichern. Hierzu gehörte auch die Fertigung von 170 Viertelzügen der Baureihe 285 (später 485) für die S-Bahn Berlin.

Ende der 80-er Jahre wandte sich LEW verstärkt dem Metro-Geschäft zu. Neben der Produktion von U-Bahn-Zügen vom Typ G-1 für Berlin bis 1989 , entstanden in Kooperation mit AEG und MAN Metrozüge vom Typ ISAP-1 und ISAP-22 für die ISAP in Athen.

Nach der Privatisierung zur LEW GmbH konnte die AEG 1992 ihr ehemaliges Werk in Hennigsdorf zurück übernehmen. Endlich hatte die AEG, die bisher nur eine elektrische Fertigung in der Nonnendammallee in Berlin betrieb, wieder Zugriff auf mechanische und elektrische Fertigung.

Zu den ersten Projekten gehörte die Hochleistungslokomotive 12X in Drehstrom-Antriebstechnik, die 1994 vorgestellt wurde. Die Lokomotive war für die Ausschreibung der Deutschen Bahn für eine Universal-Mehrzwecklokomotive mit 230 km/h Höchstgeschwindigkeit gedacht. Bestellt wurden bei AEG aber „nur“ über 400 Lokomotiven in der leistungsschwächeren Güterzugausführung.

Abbildung 6

Vorstellung der Lokomotive 12X am 30. Juni 1994

In Zusammenarbeit mit der Waggon-Union und der AEG entwickelte das Werk erste Metro-Züge für den chinesischen Markt, zunächst für Shanghai und Guangzhou, die ab 1992 produziert wurden.

Nachdem 1996 ABB und AEG ihre Schienenfahrzeugaktivitäten zusammenlegten, wurde die Fertigung der Lokomotiven nach Kassel verlagert. Am 24. Mai 1998 verließ mit 145 010 die letzte in Hennigsdorf gebaute Elektrolokomotive das Werk.

Nach der neuen Produktaufteilung innerhalb von Adtranz sollte das Werk auf die Fertigung von elektrischen und Dieseltriebwagen ausgerichtet werden.

Hierzu gehörten in der Folge die Neigetechnik-Dieseltriebwagen der Baureihe 611 und 612, aber auch die Lieferung verschiedener S-Bahn- und Regionalzüge der Baureihen 423, 424 und 425 zum Teil in Kooperation mit anderen Schienenfahrzeugbauern.

Hierzu gehörte auch die Lieferung der S-Bahn-Triebzüge der Baureihe 481 in Kooperation mit dem DWA-Werk Ammendorf.

2001 wurde Adtranz und damit das Hennigsdorfer Werk vom Bombardier-Konzern übernommen, der seine Schienenfahrzeug-Aktivitäten ausweiten wollte.

Am Produktionsprogramm änderte sich wenig. Für die Berliner Verkehrsgesellschaft BVG wurden U-Bahn-Züge vom Typ H und HK geliefert, nach der Schließung des Schienenfahrzeugwerkes in Kalmar übernahm Hennigsdorf die weitere Abwicklung schwedischer Aufträge.

Im Jahr 2008 begann die Fertigung der bekannten „Talent 2“ Züge, die bis 2021 lief.

2010 wurde mit einem ITINO der letzte in Hennigsdorf gefertigte Dieseltriebzug nach Schweden ausgeliefert. Im gleichen Jahr begann eine Kooperation mit Siemens zur Lieferung der neuen ICE4, für die in Hennigsdorf zunächst je vier Wagen je Triebzug endmontiert wurden. Parallel fertigte das Werk S-Bahn-Züge der Baureihen 422 und 430 sowie Straßenbahnen für Berlin.

Im Januar 2021 übernahm der Alstom-Konzern die Schienenfahrzeugaktivitäten von Bombardier und damit auch das Hennigsdorfer Werk. Ist innerhalb des Alstom-Verbundes als „Train Development Site“ (Fahrzeug-Entwicklungs-Werk) eingestuft. Inwieweit die Fertigung von Schienenfahrzeugen eine Zukunft hat, hängt von künftigen Aufträgen ab.

Abbildung 7

Blick auf die Endmontagehalle (Mitte) sowie die rechts davon befindlichen Rohbauhallen 1994